
Nach dem Tod des Kremlgegners Alexej Nawalny scheint dessen Leiche zunächst unauffindbar zu sein. Wie seine Sprecherin Kira Jarmysch am Samstag auf der Plattform X (vormals Twitter) berichtete, konnten Nawalnys Mutter und dessen Anwalt im Leichenschauhaus der Stadt Salechard, knapp 50 Kilometer vom Straflager Charp im Norden Russlands, keine Spur vom Leichnam entdecken. Die Mutter hatte zuvor eine amtliche Bestätigung von Nawalnys Tod erhalten.
Das Leichenschauhaus sei geschlossen, und über die am Eingang ausgehängte Kontakt-Telefonnummer sei der Anwalt auch nicht zu einer zufriedenstellenden Antwort gekommen. „Ihm wurde gesagt, dass er bereits der siebente Anrufer an diesem Tag sei“, schrieb Jarmysch. „Und der Leichnam Alexejs befinde sich nicht bei ihnen im Leichenschauhaus.“ Ein Mitarbeiter des Straflagers jenseits des Polarkreises habe zuvor mitgeteilt, dass sich Nawalnys Leichnam in der Stadt Salechard zur Untersuchung befinde, teilte Jarmysch mit. Demnach konnte die Mutter die Leiche zunächst nicht identifizieren. Jarmysch forderte, dass der Leichnam den Angehörigen unverzüglich übergeben werden müsse. Laut der Sprecherin wurde Freitag 14.17 Uhr als Todeszeitpunkt angegeben.
Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) verbat sich indes Kritik Moskaus an Reaktionen auf den Tod Nawalnys. Jene, die sich gestern am meisten aufgeregt hätten, sollten sich am ruhigsten verhalten, sagte Schallenberg am Samstag am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz. „Die russische Wehleidigkeit ist hier fehl am Platz“, sagte er zum Protest der russischen Botschaft gegen einen Kommentar von Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
Van der Bellen hatte in seiner unmittelbaren Reaktion auf X von „Wladimir Putin und seinem mörderischen Regime“ gesprochen. Die russische Botschaft in Wien konterte mit einer Protestnote ans Außenamt. Schallenberg sagte dazu, dass er sich nicht an Verschwörungstheorien beteilige. Zugleich stellte er klar: „Wir wissen, dass es einen Giftanschlag auf ihn (Nawalny, Anm.) gab, dass er in den GULAG gesteckt wurde (…), wir wissen welches Regime versucht hat, seine Gesundheit zu zerstören.“ Anders als zahlreiche internationale Politiker hatte Schallenberg eine direkte Schuldzuweisung an Moskau nach dem Tod Nawalnys vermieden, aber eine vollständige Untersuchung der Todesumstände gefordert.
NEOS-Außenpolitiksprecher Helmut Brandstätter bekräftigte mit Blick auf die „inakzeptable“ Protestnote der russischen Botschaft die Forderung an Schallenberg, den russischen Botschafter umgehend ins Außenamt zu zitieren. Schallenberg könne in einem solchen Gespräch „mit Nachdruck seine Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung der Vorgänge übermitteln“, so Brandstätter am Samstag in einer Aussendung.
Die britische Regierung zitierte indes diplomatisches Personal der russischen Botschaft ins Außenministerium. Damit wolle London deutlich machen, dass es „die russischen Behörden uneingeschränkt verantwortlich“ für Nawalnys Tod mache, erklärte das britische Außenministerium am Freitag. Nawalnys Tod in einer Strafkolonie in der russischen Polarregion müsse „vollständig und transparent untersucht“ werden.
Aus dem Außenministerium hieß es weiter, in den vergangenen Jahren hätten die russischen Behörden Nawalny „aufgrund falscher Anschuldigungen inhaftiert, ihn mit einem verbotenen Nervenkampfstoff vergiftet und in eine arktische Strafkolonie geschickt“. Niemand solle „an der Brutalität des russischen Systems zweifeln“. Bereits zuvor hatte der britische Außenminister David Cameron gesagt, der russische Präsident Wladimir Putin solle „zur Rechenschaft gezogen werden für das, was geschehen ist“.
In zahlreichen europäischen Städten, darunter Wien, demonstrierten Menschen vor den jeweiligen russischen Botschaften und nannten Kreml-Chef Wladimir Putin einen Mörder. Trotz Festnahmen und Drucks der Behörden hielten auch in Russland die öffentlichen Beileidsbekundungen für Nawalny an. In Moskau und anderen Städten räumten Männer in Zivil oder Mitarbeiter der Stadtreinigung spontan errichtete Erinnerungsstätten für den 47-Jährigen, der in Haft in der Polarregion unter ungeklärten Umständen starb. Sie packten Blumen in Müllsäcke, sammelten Kerzen und Bilder ein. Medien in vielen Teilen Russlands berichteten am Samstag, dass trotzdem weiter frische Blumen niedergelegt, Kerzen angezündet und Bilder zur Erinnerung an Nawalny aufgestellt wurden.
Nach Informationen von Menschenrechtlern gab es landesweit bereits mehr als 212 Festnahmen. Das Internetportal ovd.info berichtete am Samstagvormittag, dass allein in St. Petersburg 109 Menschen festgenommen worden seien, in Moskau 39. Insgesamt habe es in 21 Städten Festnahmen gegeben. Die Bürgerrechtler gaben auch juristische Hinweise für das Niederlegen von Blumen und veröffentlichten die Nummer einer Telefon-Hotline für anwaltliche Hilfe. Viele Russen hatten nach dem Tod Nawalnys öffentlich ihre Wut geäußert.
„Wie groß doch selbst die Angst des Machtapparates vor einem Toten ist, wenn sogar das Ablegen von Blumen zu seinem Andenken als Verbrechen angesehen wird“, schrieb der russische Friedensnobelpreisträger und Gründer der kremlkritischen Zeitung „Nowaja Gaseta“, Dmitri Muratow, am Samstag im Nachrichtenkanal Telegram.